Michel Bréal, der Erfinder des olympischen Marathonlaufs
Der olympische Marathonlauf
Der Marathonlauf ist fester Bestandteil der Olympischen Spiele. Seit ihrem Beginn 1896 in Athen gehört der Marathonlauf ohne Frage zu den olympischen Höhepunkten, und der Sieg eines Griechen dürfte die Begeisterung für diese Disziplin weiter beflügelt haben.
Der erste Sieger, Spiridon Louis, erhielt einen Pokal mit der (griechischen) Inschrift: „Olympische Spiele 1896, Marathonlauf, gestiftet von Michel Bréal“. Dieser Pokal ist inzwischen zur wertvollsten olympischen Trophäe geworden: Die Nachfahren des Siegers haben ihn 2012, mitten in der allgemeinen Finanzkrise, bei Christie’s für ungefähr 600.000 Euro, bis dato eine Rekordsumme, versteigern lassen. Der Erlös für eine Fackel der Olympischen Spiele von Helsinki 1952 hat nicht einmal die Hälfte eines solchen Betrags erzielt.
Der olympische Marathonlauf und sein Erfinder
Der Name des Pokalspenders war von großer Wichtigkeit, handelte es sich doch um den Erfinder des olympischen Marathonlaufs. „Erfinder‟ im wahrsten Sinne des Wortes, denn eine Marathon-Disziplin gab es bis dahin nicht. Man hatte zwar eine vage Erinnerung an den historischen Ursprung insofern, als nach der Schlacht von Marathon die Athener informiert wurden, dass die militärische Gefahr vor den Persern vorüber wäre. Hieraus einen sportlichen Wettbewerb abzuleiten, war die ureigenste Idee von Michel Bréal, seinerzeit Professor am Collège de France.
Bréal war mit dem Baron de Coubertin, dem Begründer der Olympischen Spiele, befreundet. Bei dem berühmten Olympia-Kongress von 1894, der letztlich die Olympischen Spiele auf den Weg brachte, saß Bréal zur Rechten von Pierre de Coubertin. Er konnte bei dieser Gelegenheit die (auf Henri Didon zurückgehende) Maxime „citius, altius, fortius‟ als olympisches Motto propagieren. Später, als sich Bréal während eines Urlaubs in Glion am Genfer See aufhielt, schlug er de Coubertin den Marathonlauf für die Olympischen Spiele 1896 vor.
„Da Sie ja nach Athen gehen, könnten Sie doch schauen, ob sich nicht ein Lauf von Marathon zum Pnyx organisieren ließe. Das würde durchaus dem antiken Geist entsprechen. Wenn wir die Zeit kennen würden, die der griechische Soldat für diese Strecke benötigte, könnten wir einen Rekord führen. Für mich möchte ich um die Ehre bitten, den ,Marathon-Pokal‘ stiften zu dürfen.“
In seinem Brief schlägt Bréal außerdem vor, die Veranstaltung der Olympischen Spiele mit der internationalen Friedensbewegung zu koppeln, wie sie u.a. von Jules Simon gefördert wurde. Aus heutiger Sicht ist die Initiierung des Marathonlaufs ohne Frage der öffentlichkeitswirksamste Aktion Bréals, auch wenn das für ihn keineswegs das wichtigste Anliegen war – seine politischen Vorstellungen, die Bemühungen um den Friedenserhalt und um die deutsch-französische Verständigung lagen ihm mehr am Herzen.
Wie dem auch sei, die Idee des Marathonlaufs fand sehr schnell Anklang und wurde rasch auch unabhängig von den Olympischen Spielen umgesetzt. Schon ein Jahr später, also 1897, fand in Paris der erste nichtolympische Marathon statt.
Wer war Michel Bréal?
Michael Julius August Breal wurde am 26. März 1832 in Landau in der Pfalz geboren, also nicht weit entfernt von der deutsch-französischen Grenze. Zeitlebens blieb er beiden Ländern eng verbunden.
Die Geburtsurkunde (mit deutschen Vornamen und dem Familiennamen ohne Akzent) befindet sich im Zivilstandsregister der Stand Landau:
Geburtsurkunde vom 26.3.1832
Die Mutter Bréals stammte aus einer jüdischen Familie in Metz; der Vater war gebürtig aus dem pfälzischen Pirmasens, sein Geburtsname lautete Abraham Machol, dessen Vater wiederum hieß Machol Liebmann. Erst nach der Französischen Revolution und der Eroberung der linksrheinischen Gebiete erwarb Abraham Machol die französische Staatsbürgerschaft, und in Folge des napoleonischen Code civil, der feste Familiennamen zur Pflicht machte, nahm er den neuen, französischen Namen Bréal an – vermutlich, weil es damals so aussah, als bliebe die Region auf absehbare Zeit französisch.
Die Familie Bréals weist einige illustre Figuren auf. Sein Schwiegersohn Romain Rolland wurde 1916 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet; sein Schwager Ludwig Bamberger war Mitbegründer der großen französischen Bank Paribas und der Deutschen Bank. Sein Sohn war verheiratet mit der Tochter des Marineministers, sein Enkelsohn wurde schließlich Botschafter Frankreichs in einigen Ländern Asiens.
Michel Bréal gilt in seiner Zeit in Europa als herausragender Wissenschaftler. Schon in seiner Doktorarbeit beschäftigt er sich mit dem Herakles-Mythos und schafft damit bereits eine Verbindung zu den Olympischen Spielen der Antike. Im Alter von nur 34 Jahren erhält er eine Professur für Vergleichende Grammatik am renommierten Collège de France; er beteiligt sich an der Gründung der École Pratique des Hautes Études und wird Mitglied des Institut de France. Seine Publikationen berühren ganz verschiedene Gebiete und gehen über sprachwissenschaftliche Themenbereiche hinaus; sie betreffen u.a. die Pädagogik, die Bildungs- und Sprachpolitik sowie Fragen der Fremdsprachendidaktik.
Einen Namen macht sich Bréal vor allem mit seinen Arbeiten zur Semantik. Die Schrift Essai de sémantique, die 1897 erstmals erschien, die mehrere Auflagen erlebte und in fünf Sprachen übersetzt wurde (darunter 2020 auch ins Deutsche), kann als Begründung einer neuen sprachwissenschaftlichen Disziplin, der Bedeutungslehre, angesehen werden. Manche Passagen sind noch der sprachhistorischen Betrachtungsweise verpflichtet, wichtiger aber sind, wie sich gerade am Beispiel der Polysemie und der Metaphorik zeigt, seine Impulse für eine synchrone Sprachanalyse.
Bréal geht es in seinen Darlegungen auch nicht allein um die Untersuchung von Wortbedeutungen, Gegenstand ist ebenso die Semantik von Komposita, fester Wortverbindungen und ganzer Sätze. Geradezu bahnbrechend ist, was Bréal zum Einsatz von Sprache als Kommunikationsmittel schreibt; Sprachgebrauch sei prinzipiell als Tätigkeit, als menschliche Aktivität aufzufassen. So wird auch bereits von sprachlichen Akten bzw. Handlungen gesprochen, die ein Sprachbenutzer mit seinen Äußerungen vollzieht. Mit dieser kommunikationsorientierten Sprachauffassung ist Bréal seiner Zeit weit voraus.
Interdisziplinarität
Wie bereits angedeutet, beschränkt sich das Wirken Bréals keineswegs auf die Sprachwissenschaft oder auf den olympischen Marathonlauf. Ein wichtiges Betätigungsfeld ist auch die Pädagogik.
Sein Buch Quelques mots sur l’instruction publique en France aus dem Jahre 1872 findet sofort eine große Resonanz, sodass noch im Erscheinungsjahr eine zweite Auflage nötig wird. Nach dem Krieg von 1870/71 verstärkt sich in Frankreich jedoch eine allgemeine antideutsche Stimmung. Bréal gehört zu den gemäßigten Wissenschaftlern, die sich um die Ursachen der militärischen Niederlage bemühen.
Trotz der Krisensituation und der offenkundigen Vorbehalte hält er den Moment für gekommen, über neue Initiativen nachzudenken und das gesamte Bildungssystem Frankreichs einer gründlichen Analyse zu unterziehen. Dabei macht er auch vor politisch unerwünschten Vorschlägen nicht Halt: So heißt es etwa in der Einleitung des genannten Werks, man könne durchaus Dinge aus dem gegnerischen Lager übernehmen – ein Vorschlag übrigens, den er in seinem zehn Jahre später erschienenen Buch Excursions pédagogiques (1882) relativiert.
Bréal lässt in seiner kritischen Bestandsaufnahme alle Ebenen und Institutionen des Bildungssystems Revue passieren, und zwar von der Primarschule bis zur Universität. Er äußert ungeschminkt seine Meinung zu Methoden des Französischunterrichts und zum Wissensstand in den Fächern Geschichte und Geographie. Hinterfragt werden methodische Ansätze, Lerninhalte und Lernziele sowie die erreichten Resultate. Bréal begnügt sich nicht mit allgemeinen Überblicksdarstellungen; er erläutert vieles anhand konkreter Beispiele und möchte einfach überzeugen und Änderungen bewirken.
Alle Institutionen werden unter die Lupe genommen. In den Kapiteln, wo es um verschiedene universitäre Einrichtungen geht, betont Bréal, wie wichtig gerade diese für die Erneuerung des gesamten Bildungswesens seien. Die Wissensvermittlung in den Universitäten erfährt, da nur wenig effektiv, eine vehemente Kritik. Bréal spricht sich für eine stärkere Verbindung zwischen universitärer Lehre und Forschungsarbeiten der Professoren aus – die Nähe zu den bildungspolitischen Thesen eines Wilhelm von Humboldt könnte kaum größer sein. Nur durch die Verknüpfung von Forschung und Lehre sei es möglich, Studenten in Methoden wissenschaftlichen Arbeitens einzuführen und auf der Basis erworbener Kenntnisse für selbständige Erkenntnisse zu befähigen. Wie schon bei seinen Ausführungen zum schulischen Unterricht richtet Bréal wiederum den Blick auf die Realitäten jenseits des Rheins – die grenzüberschreitende Perspektive ist vielversprechend und insofern unverzichtbar.
Forschung und ihre Umsetzung
Bréal geht es nicht allein um kritische Analysen, nicht minder wichtig ist die praktische Umsetzung. Von daher erstaunt nicht, wenn er sich 1871 u.a. mit Gabriel Monod an der Gründung einer alternativen Schule, der École alsacienne, beteiligt. Damit soll den Elsässern, die nach der Annexion ihre Heimat verlassen haben, die Möglichkeit geboten werden, ihre Kinder auf eine nichtkatholische Privatschule zu schicken, die sich außerdem noch durch neue pädagogische Methoden auszeichnet. (Spätere bekannte Absolventen sind z.B. André Gide, Michel Piccoli, Jean-Paul Belmondo, Élisabeth Badinter, Michel Seydoux, Nathalie Baye.) 1880 wird dann eine analoge Schule für Mädchen, das Collège Sévigné, gegründet; Bréals Tochter Clotilde gehört zu den ersten Schülerinnen.
Ein anderer Forschungsbereich betrifft die Sprachdidaktik, der Bréal mehr als dreihundert Arbeiten gewidmet hat. Im Unterschied zur Vermittlung toter Sprachen fordert er nicht zuletzt, der gesprochenen Sprache beim Fremdsprachenlernen den Vorrang zu geben, eine Forderung, die aus heutiger Sicht nicht weiter überrascht, aber seinerzeit zumindest als ungewöhnlich gilt. Sprachkenntnisse haben für Bréal im wesentlichen eine praktische Funktion, und deshalb komme es darauf an, Kommunikationssituationen und Kommunikationsziele in den Vordergrund zu rücken. Auch damit ist er seiner Zeit voraus.
Zusammenfassend kann man festhalten: Bréal hat sich mit seinen Publikationen und seinen Vorträgen zur Pädagogik, zur Didaktik und zur Sprachenpolitik einen Ruf als engagierter Bildungsreformer in Frankreich erworben. Es ist daher nicht verblüffend, wenn Jules Ferry als neuer Erziehungsminister ihm 1879 eine Position im Ministerium anbietet, was Bréal jedoch ablehnt, da er seine Arbeit als Wissenschaftler nicht aufgeben möchte.
Deutsch-französischer Wissenschaftstransfer
Michel Bréal ist eine große Mittlerfigur, das besonders im Bereich der deutschen und französischen Sprachwissenschaft. Zu nennen sind hier vor allem seine Bemühungen, die Neuerungen der linguistischen Forschung Deutschlands in Frankreich bekanntzumachen. Viele deutsche Wissenschaftler (nicht nur der philologischen Disziplinen) genießen in dieser Zeit einen hervorragenden internationalen Ruf.
Dank der innovativen Arbeiten eines Franz Bopp, seines ehemaligen Hochschullehrers in Berlin, sieht Bréal die Chance, die französische Sprachwissenschaft zu modernisieren. Er übersetzt also das Hauptwerk Bopps, die sechsbändige Vergleichende Grammatik. Mit dieser Übersetzung gelingt es Bréal, ein absolutes Referenzwerk in Frankreich bekannt zu machen und so in das historisch-vergleichende Studium indoeuropäischer Sprachen einzuführen. Für ihn ist es vordringlich, die Entwicklungen und die Fortschritte in der modernen Sprachwissenschaft zu rezipieren und die Impulse von jenseits des Rheins aufzugreifen. Bréal liefert, unabhängig von der Übersetzung, zusätzliche Erklärungen, Interpretationen, kritische Stellungnahmen und Korrekturen, die sich auf den genannten Klassiker beziehen. Damit werden nicht nur die neuen Konzepte erfahrbar und nachvollziehbar, sondern für Bréal bietet das Übersetzungs-Projekt ebenso die Möglichkeit, die eigenen Vorstellungen zur Diskussion zu stellen.
Bréal als Übersetzer, Mittler und Erneuerer
Bréal erfüllt seine Vermittlungsaufgabe mit Dynamik, Kompetenz und großer Konsequenz. Er fördert einerseits neue Ansätze, regt zahlreiche innovative Arbeiten an und vermittelt Kontakte zu Forschern in Deutschland; andererseits spart er nicht mit Kritik, wenn es sich aus seiner Sicht um bedenkliche Entwicklungen handelt. Als Beispiele könnte man seine Auseinandersetzung mit den Junggrammatikern oder mit Vorstellungen, die Sprachen als Naturorganismen betrachten (wie etwa bei August Schleicher) anführen; gerade letzteren hält Bréal eine zu große Nähe zum Darwinismus vor. Insgesamt geht Bréal jedoch umsichtig und tolerant vor; Interdisziplinarität verleiht seinen Urteilen Souveränität und Weitblick.
Politisches Engagement
Für einen kulturellen Mittler wie Bréal ist der Krieg von 1870/71 eine äußerst schmerzliche Erfahrung. Die deutsch-französische Kooperation war und ist für ihn von zentraler Bedeutung. Insbesondere beklagt er, dass die deutschen Truppen ihren Vormarsch auch nach dem Sieg von Sedan am 2. September 1870 fortsetzen, dass man sich nicht in der Lage sieht, den Besiegten einen „akzeptablen Frieden“ vorzuschlagen. Mit dem Friedensschluss von Frankfurt habe man alles andere als maßvolle und versöhnliche Bedingungen diktiert. In gleicher Weise kritisiert Bréal auch das Verhalten vieler Repräsentanten der deutschen Wissenschaft, denen er nationale Überheblichkeit und einen „absoluten Mangel an Großzügigkeit“ vorwirft.
Trotz dieser negativen und entmutigenden Erfahrungen bedeutet das für Bréal nicht, einen Bruch mit Deutschland anzustreben, im Gegenteil. Jahrzehntelang fordert er einen grundlegenden Wandel, eine Rückkehr zu gegenseitigem Respekt. Aber die Feindseligkeiten und die sog. „Erbfeindschaft“ sind stärker. Noch 1913, als die politischen Spannungen bedenkliche Ausmaße annehmen und die Gefahr eines neuen Kriegsausbruchs dramatisch zunimmt, lanziert Bréal einen aufsehenerregenden Appell: Er fordert eine Neutralitätserklärung für das elsässisch-lothringische Reichsland, und zwar unter dem Schutz der Großmächte. Nur so ließe sich für Europa ein stabiler und dauerhafter Frieden erreichen. Aber, wie man ja weiß, gibt es am Vorabend des Ersten Weltkriegs auf keiner Seite die Bereitschaft, solche Vorschläge auch nur in Erwägung zu ziehen.
Michel Bréal ist 1915 im Alter von 83 Jahren in seiner Wohnung am Boulevard Saint-Michel 87 in Paris gestorben.
Zurück zum Marathonlauf
Aber die mit Abstand populärste Erfindung ist natürlich der olympische Marathonlauf. Pierre de Coubertin hat sich den Vorschlag Bréals sofort zu eigen gemacht. Als er 1884 wegen der Vorbereitung der Spiele nach Athen fährt, hat er von Hand schon das Programm aufgezeichnet. Dabei ist er von der Marathon-Idee offenbar so fasziniert, dass er diesen Lauf nicht zusammen mit den übrigen Lauf-Disziplinen notiert, sondern dafür einen eigenständigen Programm-Punkt vorsieht.
Die Griechen sind allein schon deshalb von der Marathon-Idee begeistert, weil das eine große Aufwertung ihrer Kultur und ihrer Geschichte bedeutet. Die Begeisterung ist so groß, dass man entscheidet, den Marathonlauf als letzten Wettbewerb der ersten Olympischen Spiele der Neuzeit vorzusehen, also als abschließenden Höhepunkt. Der erste olympische Marathonlauf findet schließlich am 10. April 1896 statt, der Startschuss fällt kurz nach 13 Uhr.
Noch am Tag des Marathonlaufs schickt der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees Vikelas Michel Bréal, der in Paris geblieben ist, ein Telegramm, um ihm den geordneten Ablauf des Wettbewerbs und den Sieg des Griechen Spiridon Louis mitzuteilen. Michel Bréal antwortet umgehend und gratulierte zu den erfolgreichen Spielen.
Zu weiteren Details und bezüglich vertiefender Literatur sei auf die Homepage der Landauer Michel-Bréal-Gesellschaft verwiesen: https://michel-bréal-gesellschaft.de/.